Der deutsche Schriftsteller Matthias Politycki, derzeit für zwei Monate auf Einladung des Chinesischen Schriftstellerverbandes in Shanghai, kam am Abend des 18. Oktober 2018 zu einer Lesung an die Universität Tongji, die vom Zentrum für Chinesisch-Deutschen Gesellschaftlich-Kulturellen Austausch (CDGKA) durchgeführt wurde. Das Gespräch mit dem Schriftsteller wurde von Thomas Zimmer, seit dem 1. Oktober 2018 tätig am CDGKA, geführt. Gelesen wurde aus drei Texten aus dem 2017 veröffentlichten Essayband Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken, der derzeit ins Chinesische übersetzt wird und 2019 in einem Pekinger Verlag erscheinen soll. Den Reiz der ca. vier Dutzend Texte des Bandes macht nicht zuletzt aus, dass Politycki kein Blatt vor den Mund nimmt, er unterwirft sich nicht der „political correctness“, sondern beharrt auf der Würde, die der Reisende unterwegs nach Angriffen zu bewahren hat, und sei es mit verbaler oder gar körperlicher Gewalt. Reisen, das ist für Politycki, wie er an einer Stelle schreibt, auch immer der Versuch, sein anderes, „dunkles Selbst auf einer neuen Route“ abzugehen.
Matthias Politycki, der in Berlin und Hamburg lebt, reist seit über vier Jahrzehnten durch die Welt und schreibt in seinen Erzählungen, Romanen und Essays über das, was er unterwegs sieht und was beim Unterwegssein mit ihm passiert. Der Titel eines seiner gelesenen Texte lautete daher auch „Ein anderer werden“. Politycki beschreibt darin zum einen, was psychologisch mit dem Reisenden passiert, der sich auf Reisen begibt und einer neuen, fremden Welt aussetzt und dabei etwa eine neue Körpersprache einnimmt, geht aber zum anderen auch auf die neuen Freiheiten ein, die ein Reisender sich in der Fremde plötzlich nehmen kann, etwa indem er vorgibt, ein ganz anderer zu sein. Auf Reisen, zitiert Politycki einen seiner in den Texten immer wieder auftauchenden Bekannten, dürfe man alles erzählen, das sei keine Lüge, es würde die Reise nur interessanter machen für alle. Ziel des Reisens ist es nach Politycki nicht, ein besserer, sondern ein anderer Mensch zu werden und sich auf Neues einzulassen. Erforderlich ist dafür die Bereitschaft zur Öffnung aller Sinne gleich zu Beginn einer Reise, wie Politycki in dem ebenfalls gelesenen Text „Initialschock“ erläuterte – sich neuen Gerüchen und Anblicken in der Fremde aussetzen, die möglicherweise am Anfang noch Vorhandene Distanz ablegen, einfach offen zu bleiben und zu versuchen, den Zustand des Überquerens der „Schwelle vom Vertrauten zum Unvertrauten“ so lange wie möglich zu genießen. Jedes Erlebnis, das man unterwegs hat, auch die Unsicherheiten und Mißverständnisse, wird dann kostbar.
Eine besondere Faszination üben Städte immer wieder auf Politycki aus, wobei es, wie er sagt, nicht Sehenswürdigkeiten wie Tempel, Schreine, Schlösser, Kirchen und Moscheen sind, die ihm länger in Erinnerung bleiben, sondern vielmehr die „Nebenschauplätze“: kleine, unscheinbare Gassen, unbekannte Viertel, über die in keinem Reiseführer etwas steht und in denen es für den Reisenden durchaus gefährlich werden kann, etwa man ihn in einer moslemisch geprägten Stadt auf dem indischen Subkontinent für einen Hindu hält. Städte, so Politycki in seinem dritten gelesenen Text „Stadtwandern (II)“ müsse man sich mühsam erwandern. Zu entdecken gebe es immer wieder etwas, sogar auf den Müllbergen. Befragt auf seine Erfahrungen in Shanghai erklärte Politycki bei einem kleinen Abendessen mit Teilnehmern der Lesung im Anschluss an die Veranstaltung in der Lobby des Gebäudes, Müllberge hier vergeblich gesucht zu haben – die Entsorgung des wiederverwertbaren Mülls durch private Müllsammler funktioniert in den Compounds, so wurde ihm erklärt, funktioniere gut.
Die Frage nach der Zukunft des Reisens, die in Polityckis Essayband in einem der Texte anklingt, treibt den Schriftsteller nach seinen Erfahrungen bei einem Ausflug durch das Wasserdorf Zhujiajiao am vergangenen Wochenende ganz besonders um. Vor allem der überall auf der Welt auftretende Massentourismus mache ihm Sorgen, Städte in Europa wie Amsterdam würden bereits über Maßnahmen nachdenken, um für die künftig weiter wachsenden Besucherströme gewidmet zu sein, er selber verzichte mittlerweile auf das früher geliebte Joggen entlang der Hamburger Innenalster. Um das Reisen auch in der Zukunft für alle – die Besucher wie die Besuchten – erträglich zu machen, wird es wichtig sein, einen Modus für das Miteinander zu finden. Reisen, so lässt sich aus dem schließen, was Politycki sagt und schreibt, ist die Kunst praktisch gelebter Interkulturalität und erfordert von den besuchten Gastgebern, sich angemessen auf die Besucher einzulassen wie umgekehrt von den Gästen, sich mit den Gepflogenheit der Besuchten vertraut zu machen.