Leibniz und China: Vor 300 Jahren geschrieben – heute hochaktuell
Von Susanne Buschmann
Vor rund 300 Jahren verglich der große deutsche Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz in einem Brief an die Kurfürstin Sophie von Hannover sich selbst mit einem „Adressenbüro für China“. Mit dieser launigen Formulierung spielte er auf seine lebhafte Korrespondenz zum Thema China an, deren Ausmaß wir heute nur höchste Bewunderung zollen können. Wir wissen inzwischen, dass es Leibniz war, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Deutschen, vor allem ihre gebildete Schicht, mit dem fernen, geheimnisvollen China und seiner großen Kultur bekannt gemacht hat.
Leibniz hinterließ ein Lebenswerk, welches das universale Wissen seiner Zeit umfasste. Nicht umsonst wird er als der letzte, wenn nicht sogar der einzige große Universalgelehrte bezeichnet. Er befasste sich unter anderem mit Philosophie, Theologie, Politik, Geschichte, Physik, Sprachwissenschaft, Medizin und Musiktheorie sowie ganz besonders mit Mathematik. Er entwickelte, unabhängig von Isaac Newton, die Differenzial- und Integralrechnung. Sein Einfluss auf die Wissenschaften und die Aufklärung in Deutschland und im Europa des 18. Jahrhunderts war außerordentlich tief greifend und sehr nachhaltig. Die Hinterlassenschaft dieses großen Gelehrten findet sich vor allem in seinem thematisch äußerst vielfältigen Briefwechsel. 15 000 Briefe von ihm sind erhalten. Die erwähnte Kurfürstin Sophie war nur eine von etwa 1100 Korrespondenzpartnern, mit denen er auf Latein, Französisch und Deutsch, aber auch auf Englisch, Italienisch und Niederländisch im Briefwechsel stand. Seine Kontakte erstreckten sich über den gesamten Globus und zeugen von seinem großen Interesse am kulturellen Austausch zwischen den Völkern.
Ein wichtiger Teil der Hinterlassenschaft des großen Gelehrten beschäftigt sich mit dem Thema China und ist nun im Rahmen der Gesamtausgabe seiner Schriften zum ersten Mal geordnet und kommentiert in Deutschland veröffentlicht worden. Verantwortlich zeichnet dafür die Leibniz-Editionsstelle Potsdam, eine Einrichtung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, bei der der chinesische Wissenschaftler und Professor für Philosophie Li Wenchao als Arbeitsstellenleiter fungiert. Für die Herausgabe sämtlicher Briefe trägt die Leibniz-Arbeitsstelle Hannover die Verantwortung, die wiederum von der Akademie der Wissenschaften Göttingen betreut wird. Allein schon diese Aufteilung zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen zeugt von der Riesenhaftigkeit der Aufgabe.
Die beteiligten Wissenschaftler rechnen mit der Fertigstellung der Gesamtausgabe der Leibniz-Schriften etwa bis zur Mitte unseres Jahrhunderts. Bis 2008 sind 22 Bände erschienen. Der 6. Band der Reihe „Politische Schriften“ (4. Reihe) umfasst die Schriften, die Leibniz in den Jahren 1695 bis 1697 verfasst hat. Dieser Band enthält unter anderem seine berühmte Arbeit „Novissima sinica“ (Das Neueste von China). Diese Schrift, wie auch der gesamte Briefwechsel Leibniz´ gehören seit 2008 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Die Herausgabe des umfangreichen Nachlasses von Wilhelm Leibniz durch die deutschen Wissenschaftler bildet die Grundlage für Leibniz-Ausgaben in anderen Ländern. So ist zum Beispiel auch eine chinesische Ausgabe in Vorbereitung.
Die gegenwärtig erschlossenen Dokumente geben Auskunft darüber, dass Leibniz im Jahr 1666 zum ersten Mal in einem Artikel mit dem Titel „Über die Methode des Kombinierens“ das ferne Reich China erwähnt hat. Zu diesem Zeitpunkt war er 20 Jahre alt. Das letzte Mal taucht China in einem der in seinem Todesjahr 1716 geschriebenen Briefe auf. Heute ruft die Tatsache, dass Leibniz ein halbes Jahrhundert, faktisch sein ganzes Leben lang, dem Großreich in Asien, seiner Kultur und seinen Menschen gleich bleibende Aufmerksamkeit gewidmet hat, Erstaunen und Bewunderung hervor. Allerdings war ihm dies vor allem durch den beständigen Fluss von Informationen möglich, den ihm Asienreisende und Diplomaten nach Europa sandten. Leibniz hat auf diesem Gebiet eine sehr große Menge von Dokumenten, Briefen, Gesprächsaufzeichnungen und Aufsätzen hinterlassen, die zum Teil noch gesichtet, übersetzt und erforscht werden müssen. Der Umfang der von Leibniz in diesen Schriften behandelten China-Themen ist sehr breit. Er reicht von der chinesischen Schrift und Sprache über Geschichte, wissenschaftliches und philosophisches Denken, Literatur und Politik bis hin zum Alltagsleben mit seinen Sitten und Gebräuchen. Im Zuge der Veröffentlichung der Gesammelten Werke Leibniz´ werden diese Dokumente gesichtet und erschlossen werden.
Leibniz stand mit allen bedeutenden China-Reisenden seiner Epoche in Kontakt, sei es per Brief, sei es durch persönliche Begegnungen bei seinen Besuchen in den Städten Europas. Der Gelehrte, der Zeit seines Lebens den europäischen Kontinent nicht verlassen hat, nutzte seine Verbindungen für einen lebhaften und intensiven Meinungsaustausch mit jenen Gebildeten, die ihm einen tiefen Einblick in die andere, von ihm so hoch geschätzte Kultur und Lebensweise der Chinesen vermitteln konnten. Die historische Situation seiner Zeit brachte es mit sich, dass der Kreis dieser Reisenden, die den Wissensdurst des Gelehrten befriedigen konnten, sich zu einem sehr großen Teil aus Angehörigen des katholischen Jesuiten-Ordens zusammensetzte. Das waren in vielen Wissenschaften bewanderte, hoch gebildete Männer, die der chinesischen Kultur die größte Hochachtung entgegen brachten. Zum Beispiel war Leibniz mit Claudio Filippo Grimaldi persönlich bekannt, der gegenüber Leibniz „nicht ohne Bewunderung die Tugend und Weisheit“ des Qing-Kaisers Kangxi pries und von dessen „nahezu unglaublichem“ Wissensdurst sprach. Nicht nur Grimaldi kannte den Kaiser persönlich, sondern auch der Belgier Verbiest, der gemeinsam mit Kaiser Kangxi täglich mehrere Stunden intensive mathematische Studien betrieb. Dabei ging es darum, so berichtet Leibniz, astronomische Erscheinungen in Zahlen auszudrücken. Die Liste der Jesuitenpater, die Leibniz als Quelle seiner China-Forschungen nutzte, ist lang, und ohne Zweifel wird es hochinteressant sein, aus den Gesammelten Schriften Leibniz´ mehr über den Briefwechsel mit ihnen zu erfahren. Allerdings lässt sich schon jetzt sagen, dass Leibniz die Informationen, die er zum Thema China sammelte, nicht unbesehen übernahm, sondern er ordnete, verglich, prüfte und analysierte, um dann die Ergebnisse seiner Forschungen in sein humanistisches Weltbild einfließen zu lassen.
Leibniz zog den Schluss, „dass die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert“. Und weiter heißt es in der „Novissima Sinica“: „In den Fertigkeiten, deren das tägliche Leben bedarf, und in der experimentellen Auseinandersetzung mit der Natur sind wir einander ebenbürtig, und jede der beiden Seiten besitzt die Fähigkeiten, die sie mit der jeweils anderen nutzbringend austauschen könnte, in der Gründlichkeit gedanklicher Überlegungen und in den theoretischen Disziplinen sind wir allerdings überlegen.“ Mit der zuletzt genannten Bemerkung spielte Leibniz insbesondere auf den Entwicklungsstand der Mathematik im damaligen China an. Große Achtung brachte Leibniz explizit dem sozialen Verhalten der Chinesen entgegen, da sie alles verachteten, „was bei den Menschen Aggressionen erzeugt und fördert“. In China lebe ein Volk, schrieb Leibniz, „das die Europäer, die doch nach der eigenen Meinung so ganz und gar zu allen feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft“. Im Zusammenleben der Menschen, so fügte Leibniz hinzu, seien die Chinesen „zu einer besseren Regelung gekommen und haben in ihrer riesigen Menschengemeinschaft beinahe mehr erreicht als bei uns alle Gründer religiöser Orden in ihrem engen Kreis“. Bei allem Lob für die konfuzianischen Tugenden wies Leibniz als scharfer Beobachter zugleich darauf hin, dass der vorgeschriebene Kodex von Höflichkeitspflichten „uns – die wir freilich zu wenig gewohnt sind, nach einem Grundsatz und Regeln zu handeln – etwas Unterwürfiges an sich zu haben scheint“.
Ausgehend von seinen Einblicken in die chinesische Kultur und von seinen eigenen Vorstellungen von dem Zusammenleben der Völker arbeitete Leibniz auf einen wechselseitigen europäisch-chinesischen Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen, praktischen Erfahrungen und technischen Erfindungen hin. Es wäre zu wünschen, schrieb er, dass die Europäer auch von den Chinesen Dinge lernten, „nämlich vor allem die Anwendung einer praktischen Philosophie und eine vernunftgemäße Lebensweise, um von ihren anderen Errungenschaften jetzt nichts zu sagen“. So schlug er vor, dass junge Chinesen nach Europa kommen und die Europäer unterrichten sollten, sozusagen als Gegengewicht zu den in China tätigen Jesuiten-Missionaren.
In den Mittelpunkt seines gesamten Verständnisses von China stellte Leibniz letztlich den Gedanken der Harmonie, der friedlichen Kommunikation und des Austauschs. Diese von Leibniz verbreiteten Auffassungen und Informationen bildeten die Grundlage für die Kenntnisse der Deutschen über China bis in das 19. Jahrhundert hinein, verloren dann jedoch lange Zeit ihren Einfluss.
Bis heute haben die Ansichten und Erkenntnisse von Gottfried Wilhelm Leibniz nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mehr noch: Es zeigt sich, dass Leibniz, der in globalen Zusammenhängen zu denken verstand, seiner Zeit weit voraus war. Solche friedlichen, gleichberechtigten Beziehungen zwischen Deutschen und Chinesen, wie er sie sich vorstellte, nennen wir heute „Dialog der Kulturen“ und „Austausch auf Augenhöhe“. Das Verhältnis zwischen Deutschland und China in diesem Sinne zu gestalten und weiter auszubauen, bleibt eine ständige Aufgabe, ganz im Sinne von Wilhelm Leibniz !
Quelle: http://www.chinatoday.com.cn/ctgerman/buk/txt/2009-08/11/content_211496_2.htm